Leseprobe Teil 1 aus: ‚DES TEUFELS HAND‘

Die Reisen

Mein Name ist Andreas Gabriel Klein. Ich wurde am 1. Mai 1954 - einem Samstag – in einem Dorf von damals schon recht ansehnlicher Größe, nahe einer Industriestadt, im Südwesten des geteilten Deutschland, geboren. Meine Vorfahren väterlicherseits waren über mehrere Jahrhunderte ansässig in den Gebieten Böhmen–Mährens, von wo die Familie nach Beendigung des letzten Weltkrieges vertrieben wurde. Meine Mutter stammt aus guter Familie in einer bekannten deutschen Schuhproduktionsstadt. Ausgebombt, zog ihre Familie in ebendieses Dorf, in welchem ich später das Licht der Nachkriegswelt erblicken sollte.

  • Im Alter von etwa drei Jahren galt ich als Vorzeigekind ́ unseres Dorfteiles; immer adrett gekleidet, Matrosenanzüglein beispielsweise, mit weißem. geplättetem Krägelchen, hochdeutsch sprechend, was damals in dieser Umgegend, woselbst Dialekt das vorherrschende Idiom war, als eher ungewöhnlich galt – und immer nett und höflich , wie von den Eltern erwünscht. Die Worte :Bitteschön ́, `Dankeschön ́, gehörten zu meinem üblichen Vokabular. Ich war angehalten, mich nicht schmutzig zu machen; nicht mit jedem Kind der Nachbarschaft Umgang zu pflegen; und da ich als nervöses Kind galt, wurde ich abends früh zu Bett geschickt, was freilich meinen eigenen Interessen widersprach. Ich liebte Bilder– und Märchenbücher und verbrachte mehr Zeit Zuhause, in jenen bunten Schätzen blätternd und mir selbst, aus der Erinnerung, daraus vorlesend. Bereits vor meiner Einschulung war ich in der Lage, einfache Wörter entziffern zu können und Bücher blieben auch späterhin meine treuen Begleiter und Freunde.

War ich als Kleinkind bereits nervös und unruhig, so verschlimmerte sich dieser Zustand im Laufe der Zeit; ich wurde von Gesichtszuckungen geplagt und dadurch, sowie durch meine Unfähigkeit, den landesüblichen Dialekt wirklich zu beherrschen, zum Ziel des Spottes so mancher Schulkameraden. – Dies war letztendlich nur geeignet, mich noch mehr zum Einzelgänger zu machen, als ich es ohnehin durch die Art meiner Erziehung bereits war. Immer noch verbrachte ich meine freie Zeit Zuhause, in Bücher versunken, welche mir von der weiten Welt berichten wollten. `Karl May ́; Seefahrerberichte, Abenteuergeschichten. Dann Reiseberichte; wobei es mich wenig interessierte, ob diese wahr oder erfunden seien. Die Welt war groß und weit und ich begann zu bedauern, dass ich in so beengten Verhältnissen zu leben hatte.

Etwa ab der sechsten Grundschulklasse begann ich, mir eigene Gedanken über Religion und Glauben zu machen und Zweifel an den Lehren der Christlichen Kirchen wollten sich regen. Bislang Ministrant und in den Fächern Religion , sowie auch Deutsch, immer Klassenbester, stellte ich dem Gemeindepfarrer, es muss in der Zeit meines Aufenthaltes in der siebten oder achten Klasse gewesen sein, folgende Frage, betreffend des einmaligen Lebens auf Erden – und nachfolgender ewiger Belohnung oder Bestrafung: „Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Taugenichts als Bruder und Jener käme nach seinem Tode in die Hölle, was ja bedeutet, auf ewig unglücklich zu sein. – Sie hingegen, als guter Mensch und Gottesmann, kommen zum ewigen Glücklichsein in den Himmel. – Wie können Sie, in dem Wissen, dass Ihr Bruder , oder auch sonst irgendein Menschenkind, zu ewigen Qualen verdammt ist, selbst glücklich sein ?“

Der Herr Pfarrer sah mich groß an und ich respektiere ihn noch heute für seine Aufrichtigkeit bei der Beantwortung meiner Frage. Er sagte : „ Andreas, diese Frage kann auch ich dir nicht beantworten. Ich weiß es einfach nicht. Auf diesen Gedanken bin ich bisher noch nicht gekommen.“ Kein Versuch, auszuweichen; kein: Glaube einfach! Nein! Ich schätze ihn noch heute, den längst Verstorbenen, für dieses einfache und ehrliche „Ich weiß es nicht.“

Halbe Nächte wollte ich nicht schlafen, um Antworten zu finden über das Wie und Warum allen Seins. – Was man mich gelehrt hatte, erschien mir unsäglich ungerecht. Ich, als armseliger, kleiner Mensch, konnte an keinem hungrigen Hund vorübergehen, ohne dass Mitleid mich ergreifen würde; wie konnte dann Gott selbst, als der Übervater alles Lebendigen, seine Kinder dem höllischen Feuer überantworten? Der Gerechtigkeit willen müssten die Gestrauchelten eine neue Chance erhalten und wieder und abermals, bis sie endlich den Ansprüchen genügten. Wenn Alle von einem Gott kamen, wie konnten dann Welche verlorengehen, anstatt irgendwann zu ihm zurückzukehren...?

Meine schulischen Leistungen ließen zu diesem Zeitpunkt bereits empfindlich zu wünschen übrig. Der Lehrkörper äußerte sich meiner verzweifelten Mutter gegenüber unisono: „Er kann: - doch will er nicht mehr.“ Sie hatten recht. Ich hätte studieren sollen; Jura – oder auch Medizin. Ich selbst interessierte mich mehr für die Musik und Psychologie, doch mein Vater machte mir Vorstellungen, dass er seinem Sohn nicht erlauben würde, wie `Diese Beatles ́ auf einer Bühne herumzuhüpfen. Mein Wunsch, ernsthaft Musik zu studieren, wurde somit begraben und ich beschloss, in der Schule weniger zu tun, um einfach einen Lehrberuf zu ergreifen und so meinen Vater zu treffen. Meine langen, doch stets gepflegten Haare waren ein anderes, ewig leidiges Thema. Meine Eltern schämten sich deshalb und zwei– oder dreimal lief ich aus Furcht vor dem bestellten Friseur für mehrere Tage von zu Hause weg.

Einen schlotterigen, grünen Parka ́ deponierte ich außerhalb des elterlichen Hauses, da man mir niemals erlaubt hätte,wie ein Gammler ́ durch die Gegend zu laufen. Ich begann nach Abschluss der Schule eine Lehre als Dekorateur und Schaufenstergestalter und kam in dieser Zeit in Berührung mit verschiedenartigen Drogen. Vom Haschischrauchen hielt ich damals nicht besonders viel und lernte bald L.S.D. kennen. Dieses schien wie für mich geschaffen und ich verkehrte mit Leuten, welche die gleichen Standpunkte vertraten wie ich selbst: Gewaltlosigkeit; Schluss mit dem Vietnam-Krieg; - lasst den Lieben Gott einen Alten Mann sein; nein zum Alkohol – und die Sehnsucht nach einer anderen, - wärmeren, freieren Welt....

Wir waren uns einig in unseren Ansichten; doch Freunde, wahre Freunde fand ich auch hier keine. Bald wurde ich in den Augen der Gruppe zum Aussteiger; genaugenommen existierte dieser Ausdruck in der damaligen Zeit als Schlagwort noch nicht, doch trifft er sinngemäß zu. Aussteiger war Jeder, der die L.S.D. oder Trips –Gruppe , aus welchem Grund auch immer, verließ. Mein Grund war die Bekanntschaft mit der Nadel. – Ich begann mit Morphiumampullen aus der Apotheke und war schon bald beim Heroin, welches zu jener Zeit noch äußerst sauber und nahezu rein, von amerikanischen Soldaten zu erstehen war. Ohnehin noch nie ein starker Esser, vergaß ich jetzt manchmal für zwei Tage oder mehr, einfach etwas zu essen und verlor freilich rapide an Gewicht. Doch fühlte ich mich selbst tatsächlich wohl dabei. In dieser Zeit meiner Lehre erfuhr ich zum ersten mal Etwas über andere Religionen. Ein Buch über Zen-Buddhismus in Japan kam mir – ich kann mich heute nicht mehr an das Wie erinnern – in die Hände. Freudig erregt stellte ich fest, dass die Lehren des Buddha in etwa meinen eigenen Gedanken entsprachen.

Ich begann, mich in die südasiatischen Religionen zu vertiefen – und ein Entschluss reifte in mir. – Ich wollte nach Indien gehen; eines Tages wollte ich dorthin.... Es schien mir das Land meiner langjährigen Träume und Phantasien. Ich verschlang alles, was ich an Lektüre über dieses südasiatische Land nur bekommen konnte. Goa galt außerdem als das Drogenparadies schlechthin. Drogen und Glaube; wie gut passte dies doch zusammen ! Drogen waren mitnichten Mittel zur Betäubung; dies war der Alkohol, sowie die Einstellung der älteren Generation! Drogen waren dazu da, das Bewusstsein zu erweitern oder gegebenenfalls zu verändern.

`Rauschgift ́- welch alberner und herabsetzender Begriff ! Berauscht waren die Älteren und Eltern von den Hetzreden der Nazis; Gift war das erzwungene deutsche Erbe. Drogen sollten uns endgültig davon befreien ! Altes Denken überkommen; neue, friedvolle Wege gehen; endlich den Überfluss unserer Gesellschaft mit den ärmeren Nationen teilen; dies waren Ziele, für die Unsereiner bereit gewesen wäre, zu kämpfen auf die eine oder andere Weise. Manche taten dies, indem sie sich auszogen, um nackt – als Flitzer – wie sie bald genannt wurden, durch Parks oder auch belebte Straßen zu laufen. Andere nahmen an Demonstrationen teil und prügelten sich mit der Polizei; wieder Andere nahmen gar die Waffe in die Hand, um mit dem Establishment auf blutige Weise aufzuräumen.

Bei uns Drogenleuten war Gewalt gegen Andere verpönt. Die einzige Gewalt, die wir kannten, war die gegen unsere eigenen Körper und gegen unser Leben und unsere Gesundheit. Keiner von uns hatte die Sehnsucht, in einer solchen Welt sehr alt zu werden. Wir wussten, dass wir, die wir an der Nadel hingen, unsere Körper zerstörten und wir akzeptierten es.

  • Mit dem eigenen Tod auf die Missstände der Gesellschaft aufmerksam machen, das war für Manchen von uns erwünschtes Märtyrertum. Als Symbol für Gewalt galt nicht nur die Atombombe, die Leute wie mich in eine Endzeitstimmung versetzen wollte, sondern schlechthin alles, was in irgendeiner Weise mit `Atom ́ zusammenhing. – So wurden Atomkraftwerke verteufelt und gegen sie demonstriert – und Proteste wurden nicht mehr nur mit Transparenten bekundet, sondern gewisse Gruppen wollten auch vor Gewalttaten nicht mehr zurückschrecken. Ich selbst war – damals noch – nicht dazu bereit.

Meine Lehre brach ich vorzeitig ab, arbeitete noch etwa ein halbes Jahr als Laborant in einem großen Chemieunternehmen und verließ dann, ohne Wissen meiner Eltern, im Januar 1973 Deutschland, um mir einen anderen Teil der Welt anzusehen und mein Traumziel Goa zu erreichen.

Mit dem Istanbul–Express fuhr ich direkt bis zu der türkischen Stadt am Bosporus, woselbst ich einige Tage verweilte, um dann wiederum mit der Eisenbahn weiter nach Malatya, im Osten der Türkei, weiterzufahren. Ohne irgendwelche Kenntnisse des Englischen oder sonst einer Fremdsprache war ich aufgebrochen; mit winziger Reisekasse, doch voll-bepacktem Rucksack.

Die Türken erwiesen sich als überaus gastfreundlich und hilfsbereit und ich liebe dieses Volk noch heute dafür. – Ich blieb einige Tage zu Gast bei einer kurdischen Familie, deren Sohn ich im Zug von Istanbul nach Malatya kennengelernt hatte und der auch gerade aus Deutschland zurückgekehrt war, wo er als Gastarbeiter sein Geld verdiente. Er sprach ein recht gutes Deutsch. Überhaupt fanden sich erstaunlich viele Türken, welche der deutschen Sprache mächtig waren.

Weiter ging es nach Persien – den heutigen Iran. – Noch war der Schah an der Macht; die Straßen waren hervorragend und noch das kleinste Dorf hatte einen mit bunten Lichterketten beleuchteten, mit Blumenrabatten angelegten Dorfplatz, auf welchem die Statue des Reza Pahlevi prunkte. Man erkannte auf den ersten Blick, dass dies kein armseliges Entwicklungsland war. Benzin war spottbillig – und die Leute hatten Geld. In Teheran sah man verschleierte Frauen neben ihren modernen, mini-berockten Landesschwestern. Im Amir–Kabir-Hotel' stieg ich ab; beliebtes Hippie-Ziel, so wie derPudding-Shop ́ in Istanbul Magnet für Meinesgleichen war.

An den persischen Grenzen strenge Drogenkontrollen; doch war man erst einmal im Land, konnte man in Apotheken verschwiegen Morphiumampullen deutschen Fabrikats erstehen. Überhaupt gab es viele deutsche Waren in Persien. Deutsche Markenschuhe; fabrikneue Lastwagen mit dem bekannten Sternsymbol fuhren im Konvoi von West nach Ost. Viele Perser sprachen französisch; weniger englisch; leider, da es mir so schwerer wurde, hier die ersten Englischkenntnisse zu erwerben.

Afghanistan. Die Karte vermerkte lediglich zwei Hauptrouten, auf welchen man nach Pakistan gelangen konnte. Ich nahm die kürzere, nördliche. Wunderliche, bärtige, mit Flinten bewaffnete Männer, von welchen etliche mich an den `Räuber Hotzenplotz ́ aus meinen Kindertagen erinnern wollten. Noch herrschte der König in Afghanistan, der jedoch noch im gleichen Jahr, ich glaube, September oder Oktober, ins Exil flüchten sollte. Kabul gab sich in einem oder zwei Hotels westlich orientiert, ansonsten interessantestes Mittelalter..... Es war eisig kalt und der Schnee lag hoch. Ich musste auf dem Markt Holz kaufen, um in meinem Hotelzimmer den Ofen heizen zu können. Einen weiß-gelblichen Hund, der mir mehrere hundert Meter weit hinterherlief, fütterte ich mit Brot und er folgte mir bis in den Innenhof des Hotels. – Dort trieb er sich dann weiter herum und wurde erneut von mir gefüttert. – Nach Einbruch der Dunkelheit öffnete ich die Zimmertür, welche nach jenem Innenhof lag, um nach meinem neugewonnenen Freund zu sehen und ihn ins warme Zimmer zu lassen. Er war immer noch anwesend, doch mit ihm auch ein weiteres Dutzend streunender Straßenhunde.

Lachend ließ ich die ganze Bande ein und tatsächlich verhielten sie sich die ganze Nacht über mucksmäuschenstill. Hatte mein vierbeiniger Freund ihnen von dem verrückten Langhaarigen erzählt ? Ich mochte das frischgebackene, dicke afghanische Fladenbrot, Nan genannt. Es war mit Sesamsamen bestreut und ich bestrich es mit Marmelade oder aß Schafskäse dazu.

Weiter ging es nach Pakistan. Dort waren Polizisten sowie Soldaten sehr freundlich und luden mich des Öfteren zu einem Glas Milchtee ein. In Peshawar lernte ich dasHamam ́ kennen. Da es in dem billigen Lodge, in welchem ich übernachtete, kein Badezimmer gab, war ich gezwungen, in ein öffentliches Badehaus zu gehen. Weit entfernt vom Standard eines türkischen Bades gleichen Namens, wurde man in eine kleine Kabine geführt, wo man gegen Bezahlung heißes und kaltes Wasser in einen großen Behälter geleitet bekam. Seife und Handtücher erhielt man gleichfalls. In Lahore gab es gleich mehrere Anlaufstellen für Touristen meiner Kategorie. Ich mietete mich imHappy-Inn ́ ein, auf dessen Flachdach allabendlich die mit Haschisch bestückte Wasserpfeife benutzt wurde. – Beim Hotel-Manager konnte man Haschisch oder auch Morphium bestellen – und bekam es dann aufs Zimmer geliefert. Dort, in jenem Hotel, lernte ich auch das englische `Porridge ́ kennen und aß es jeden Morgen.