ActivityPub, der Turbo des Fediverse

Ein neuer Standard verändert das Web und Europa verpasst wieder einmal eine große Chance

Kürzlich lief ein Toot durch meine Timeline, der bei mir ein kleines Aha-Erlebnis auslöste. Ein gewisser dada listet in der Nachricht vier Software-Projekte auf, die auf dem neuen W3C-Standard ActivityPub aufbauen. Neben die Namen der Projekte setzte er die Flagge des Landes, aus dem der Hauptentwickler stammt.

Toot

In den Kommentaren werden weitere Projekte aufgezählt. Allen gemeinsam ist, dass ihre Schöpfer keine US-Amerikaner sind. Fast hat es den Anschein, als würden die USA, wo die großen proprietären Internetplattform entstanden sind, die Milliarden Menschen ausspionieren und ihren Erfindern einen unanständig großen Reichtum verschafft haben, als würde das innovationsversessene Silicon Valley die faszinierendste Entwicklung der letzten Jahre im Internet verschlafen. Das ist natürlich ein Trugschluss. Auch dort wird sicher an ActivityPub-Projekten gearbeitet. Und das Imperium wird ganz sicher Mittel und Wege finden, um selbst das Fediverse zu monetarisieren. Aber im Moment fliegt das freie soziale Netz unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle der Start-up-Szene in Kalifornien. Und das ist auch gut so.

Schauen wir uns die Projekte einmal genauer an.

Pixelfed

Pixelfed ist ein föderierter Dienst, um Fotos zu teilen, und wird von Daniel aus Alberta in Kanada entwickelt.

Peertube

Peertube, die föderierte Peer-to-Peer Videoplattform wird federführend von Chocobozzz aus Frankreich entwickelt.

Plume

Plume, die föderierte Blogplattform, wird von Baptiste Gelez aus Douala in Kamerun entwickelt.

Mastodon

Der Erfinder der dezentralen Microblogging-Plattform Mastodon heißt Eugen Rochko und kommt aus Deutschland.

Jeder spricht mit jedem

Die Nutzung von ActivityPub bringt diesen Projekten einen immensen Mehrwert. Nutzer unterschiedlicher Dienste können plattformübergreifend miteinander kommunizieren. Man kann zum Beispiel einem Plume-Blog in Mastodon folgen, sodass man alle Updates sieht. Und man kann auch direkt in Mastodon die Artikel kommentieren. Der Activity-Standard, ich habe das am Ende meines Artikels über Mastodon und Hubzilla bereits angedeutet, wird die Entwicklung der förderierten und dezentralen Plattform ganz entscheidend prägen. Er ist der Turbo des Fediverse.

Wir werden zukünftig in Mastodon einem Peertube-Video-Channel oder einem Pixelfed-Account folgen können. Wir werden von einem unserer ActivityPub-Accounts auf allen anderen Plattformen kommentieren können. Das Fediverse bekommt durch diesen Standard und die daraus resultierende konvergierende Software-Entwicklung einen mächtigen Schub.

Wären da nicht die Politiker

Leider ist Europa auf dem besten Weg, diese aufregende Entwicklung durch die Einführung eines Leistungsschutzrechtes (Linksteuer) und einer umfassenden Zensurinfrastruktur (Uploadfilter) gleich wieder abzuwürgen. Es ist deprimierend zu sehen, wie Mitglieder des Rechtsausschuss, die nicht einmal ansatzweise Verständnis für die Chancen der Digitalisierung mitbringen, über die Zukunft der großartigsten Kommunikationsplattform, die die Menschheit je besessen hat, abstimmen dürfen. Wie lange wollen wir uns eigentlich noch von den Lobbyisten der verwesenden Verlagsbranche und von totalitären Innenministern die Zukunft verbauen lassen? Wir sollten sie endlich allesamt zum Teufel jagen!

Was wir jetzt brauchen, ist eine Gesetzgebung, die dezentrale Lösungen entschieden fördert und nicht immer den technischen und sozialen Innovatoren Knüppel zwischen die Beine wirft. Wir brauchen ein Rahmenwerk, das sich eindeutig zur Netzneutralität, zur Freiheit und zur Dezentralität des Internets bekennt. Die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) war ein Schritt in die richtige Richtung, da sie sich gegen die Ausbeutung personenbezogener Daten durch große Konzerne wendet. Leider haben die Abgeordneten nicht bedacht, dass sie durch die Überbürokratisierung des Datenschutzes gerade den kleinen und innovativen Unternehmen die Luft abdrehen. Der Gesetzgeber hat bei der Formulierung zudem kräftig geschludert, sodass vieles vor Gerichten geklärt werden muss. Selbst Optimisten gehen davon aus, dass erst in einer Dekade wieder Rechtssicherheit herrscht – falls die EU dann noch existiert.

Organisation ist alles!

Es ist höchste Zeit, dass sich die Entwickler und Nutzer des Fediverse politisch organisieren und den Ausbeutungs-Lobbys in Europa massiven Widerstand leisten. Eine Mitgliedschaft in den einschlägig bekannten Organisationen, die sich zum Beispiel in EDRi auf europäischer Ebene zusammengeschlossen haben, ist sicher eine gute Idee, insbesondere nachdem wir nicht in der Lage waren, mit der Piratenpartei eine neue Bürgerrechtspartei für das 21. Jahrhundert aufzubauen.

Ich halte aber auch eine gemeinschaftliche wirtschaftliche Organisation des Fediverse für wünschenswert. Zurzeit wird das Fediverse von vielen engagierten Einzelpersonen am Laufen gehalten. Wenn Einzelne auf Dauer die Kosten für die Infrastruktur der Gemeinschaft tragen müssen, können wir keine nachhaltige Entwicklung erwarten. Wenn sich jeder Nutzer mit einem kleinen Monatsbeitrag an den Kosten des Fediverse beteiligt, wird niemand finanziell überfordert. Ich werde diesen Beitrag aber um so lieber tragen, wenn mein Geld in eine gemeinschaftliche Infrastruktur fließt, deren Entwicklung ich demokratisch mitbestimmen kann. Wenn wir das Fediverse lediglich kommerzialisieren, legen wir bloß den Grundstein für neue Monopole. Ein neues, demokratisches Netz schaffen wir nur durch echte Teilhabe als wirtschaftlicher Teilhaber zum Beispiel in einer Genossenschaft.

Update

(Dieser Artikel erschien zuerst in https://www.hasecke.eu. Heute hat das EU-Parlament Uploadfilter und eine Linksteuer beschlossen. Mehr dazu in Julias Blog